Die Juggalos feiern ihre Armut und Chancenlosigkeit und sind so die zeitgemäßeste Subkultur Amerikas. Ein Besuch auf einem der wildesten Festivals der Welt.
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Als Brandon im "Legend Valley" ankommt, ist er pleite. Aus der linken Tasche seiner Baggy Pants zieht er sein Portemonnaie. Es ist leer. Ein paar Cents klimpern herum. Aus seinem Rucksack kramt er einen Gefrierbeutel, in dem dreißig Gramm Gras stecken. "Mehr brauche ich nicht«, sagt der 17-Jährige und lacht. Weil er sich zwar nicht ausschließlich von Marihuana ernähren kann, es aber trotzdem verdammt noch einmal versucht. Weil er weiß, dass er in den kommenden vier Tagen keinen Hunger leiden und ihm immer irgendjemand eine Flasche Wasser schenken wird, dass man hier auf ihn aufpasst. "So sind Juggalos«, sagt Brandon. "Wir sind eine Familie und helfen uns.«
Die "Juggalos" sind Fans des amerikanischen Horrorcore-Rap-Duos Insane Clown Posse (ICP), das sich selbst als "die verhassteste Band der Welt" bezeichnet. Nach außen geben sich ICP und die Juggalos wild und wütend, verschrecken Bürger mit bemalten Gesichtern, Horrorvideos und Drogenkonsum, zueinander aber sind sie nett, tolerant, ja fast sanft. Seit dem Jahr 2000 treffen sich jeden Sommer Tausende Juggalos zum "Gathering«, das dieses Jahr bei dem Ort Thornville in Ohio stattfindet. Innerhalb von vier Tagen lernt man hier nicht nur viel über eine schnell wachsende Subkultur, sondern auch einiges über die Nicht-mehr-ganz-so-super-Macht USA.
Die Sonne scheint über den grünen Hügeln, dem Festivalgelände "Legend Valley«. Der kleine See im Tal ist mit einem Gitter umzäunt. Brandon hat sein Zelt an einer Weggabelung aufgebaut, von der er direkt auf die Hauptbühne blicken kann. Der Geruch von Marihuana liegt in der Luft. Überall sieht man die Erkennungszeichen der Juggalos: schwarz-weiße Clownschminke, die sogenannten Hatchetman-Tattoos ein Killer mit Axt und die billig-süße, knallbunte Limonade Faygo; und man hört den Willkommensgruß "Whoop whoop!«. Die Bässe des ICP-Songs "Homies" vibrieren in den Autoradioboxen: "If you don't like me, you can fuck off! / Carnival ain't for everyone!" "Du magst mich nicht? Leck mich!«
Das "Gathering" ist auf den ersten Blick ein Festival unter vielen. Ein Ticket: 190 Dollar. Ein Autostellplatz: 110 Dollar. Kirmesbuden. Popcornstände. Ein Riesenrad. Bier aus Plastikbechern. Der Burrito kostet zwei Dollar. Einundsiebzig Konzerte an vier Tagen. Doch ICP sind keine normale Band und die Juggalos sind keine ganz normalen Fans. Violent J und Shaggy 2 Dope sind in einem armen Viertel Detroits aufgewachsen und rappen seit den frühen 90er Jahren über Lebensmittelmarken, blutige Kämpfe auf der Straße und den Vater, der nie da ist. Sie prangern Armut nicht an, schwelgen auch nicht, wie Kanye West oder Jay-Z, im Luxus und der HipHop-Version des amerikanischen Traums, sondern preisen die Armen und Außenseiter als Helden. ICP haben mehr als zehn Millionen CDs verkauft und eine Jugendbewegung gegründet. Violent J und Shaggy 2 Dope tragen Bürstenhaarschnitt, Football-Shirts und eine schwarz-weiße Kriegsbemalung, sehen aus wie eine Mischung aus Limp Bizkit und Kiss, und wer das irgendwie uncool findet, hat nichts verstanden. "Für unsere Fans sind wir Bob Dylan«, meinten sie mal in einem Interview. Viele der Juggalos, die man auf dem "Gathering" trifft, erzählen, dass sie zu Hause Regale im Supermarkt einräumen, an der Tankstelle jobben oder den Rasen in öffentlichen Parks mähen, viele sind arbeitslos oder beziehen Sozialhilfe. Zu Hause haben die Juggalos zu wenig Geld, zu wenig Perspektiven, tragen die falschen Klamotten und hören diese komische Band. Auf dem "Gathering«, dieser Mischung aus Loveparade, Wacken und Burning Man, aber sind sie nicht länger die Loser, sondern unter sich, sind die Könige der Welt. Und weil dieses Selbstbewusstsein nicht sofort verschwindet, wenn sie in den Alltag zurückkehren, ist die Juggalo-Bewegung auch eine Art Gruppentherapie für die amerikanische Unterschicht.
"Eben hat mein Freund Bier aus meinem Arsch getrunken", sagt sie mit einem breiten Lachen im Gesicht.
Brandon sitzt vor seinem Zelt auf einem Campinghocker und dreht einen Joint. Ein Mädchen in einem Bikini läuft vorbei, sein ganzer Körper ist knallrot. "Was ist dir denn passiert?«, fragt Brandon. "Ich habe zu viel Acid genommen und lag den halben Tag in der Sonne«, antwortet sie. Beide reden darüber, welche Bands sie heute schon gesehen haben und welche Drogen sie später noch nehmen werden. "Eben hat mein Freund Bier aus meinem Arsch getrunken«, sagt sie mit einem breiten Lachen im Gesicht. Auf dem Trampelpfad geht ein Mann in einer selbst gebauten Ritterrüstung vorbei. Brandon ruft ihm zu: "Whoop whoop!" der Schlachtruf der Juggalos. Der Ritter antwortet "Whoop whoop whoop!" und zieht seine Graspfeife aus der Tasche. Brandon und der Ritter kiffen ein bisschen und trennen sich dann wieder.
Was man in vier Tagen auf dem "Gathering" so alles sieht: Einen Typen, der sich mit Brandbeschleuniger überschüttet und anzündet. Zum Glück haben seine Freunde einen Feuerlöscher dabei. Ein Mädchen in Hotpants, das einem Typen, dessen Bauch bis zum Boden hängt, einen Lapdance gibt. Zwei Mädchen, die an einem Wettbewerb teilnehmen, der ganz harmlos "Wet-T-Shirt-Contest" heißt, und sich dann Zwei-Liter-Plastikflaschen in den Hintern stecken. Das "Gathering" ist eine Mischung aus Freakshow und sozialem Experiment. Jeder probiert alles aus und macht, was er will. Juggalos ersetzen nicht die wahre Familie, aber sie erleichtern es vielleicht, damit umzugehen, dass man keine hat.
Sein vier Jahre älterer Bruder Blade sitzt auch im Gefängnis, weil er einen Mann ausgeraubt hat, um Geld für Heroin aufzutreiben.
Brandon ist im Bundesstaat Wisconsin aufgewachsen. Als er sechs Monate alt war, erzählt er, habe seine Mutter ihn vor der Haustür seines Vaters abgestellt. Brandon kann sich natürlich nicht daran erinnern, er hat die Geschichte aber sehr oft gehört. "Es gab immer nur meinen Vater und mich. Er war mein bester Freund«, sagt Brandon. Tränen steigen ihm in die Augen. Der Name seines Vaters sei Louis, sagt Brandon, er habe einen langen Bart getragen und immer ein Basecap. Louis hatte eine Drogenkarriere hinter sich; als Brandon neun Jahre alt war, teilte er sich mit seinem Vater den ersten Joint. 2011 wurde Louis bei einer Polizeikontrolle mit ein bisschen Gras erwischt, er kam in Untersuchungshaft, wurde krank und wohl zu spät ins Krankenhaus verlegt. Louis starb zwei Tage später. Vermutlich an Herzversagen. Brandon war damals vierzehn und allein. Sein vier Jahre älterer Bruder Blade sitzt auch im Gefängnis, weil er einen Mann ausgeraubt hat, um Geld für Heroin aufzutreiben. Seine Mutter ruft Brandon nur an, wenn sie Geld für Drogen braucht. An seinem Geburtstag bleibt das Telefon still. "Ich weiß nicht einmal genau, wie alt sie ist«, sagt Brandon. Früher habe ihn das sehr wütend gemacht, inzwischen habe er akzeptiert, dass seine Mutter nicht Teil seines Lebens sein will. Es klingt, als habe ihm ein Therapeut das eingeredet, aber eigentlich hat Brandon alles, woran er glaubt, von ICP gelernt.
Es gab einen Punkt, an dem Brandon glaubte, dass er nicht alt werden würde. Ein Freund gab ihm ein ICP-Album, immer wieder hörte er den Song "Pass Me By«, immer wieder: "And while you sit around cryin' for your dead friend / He's chillin' up there, paid, getting mad ends" trauert nicht um die Toten, heißt es da, die hängen im Himmel ab, es geht ihnen gut.
Das "Gathering" wirkt mit dem Sex und den Drogen nicht wie eine religiöse Veranstaltung, aber in der Welt von ICP gibt es Gesetze, einen Himmel das "Shangri-La« und eine Hölle. Die Band gibt gerade Leuten, deren Welt keine Ordnung kennt, Orientierung. "Es war so, als würde mich endlich jemand verstehen«, sagt Brandon. Einer der wichtigsten Werte ist Toleranz. Das "Gathering" sieht manchmal aus wie eine Messe der Hardcore-Subkulturen, man sieht Piercingkunstwerke, Irokesenschnitte und Fetischkostüme. "Alles ist erlaubt«, das Motto der Postmoderne scheint hier endlich umgesetzt: Du bist weiß, schwarz, lateinamerikanisch, hetero, gay, transgender mir doch egal, willst du kiffen?
Brandon will ein besseres Leben als seine Eltern und sein Bruder, er nimmt kein Crystal Meth mehr und besucht noch die Schule. Truckfahrer sei doch ein guter Beruf. Seine Lebensplanung ist vergleichsweise bescheiden. Andere Jugendliche träumen davon, in die Großstädte New York oder San Francisco zu ziehen oder auf ein College zu gehen, sein American Dream ist es, die Miete zahlen zu können.
Was man auf dem "Gathering" auch sieht: Eine zwei Meter lange Bong, an der sich die Menschen brav anstellen. Einen Moshpit, in dem sich die Juggalos mit dem knallbunten Softdrink Faygo besprühen. Einen Typen, der sich "ICP" in die Brustbehaarung rasiert hat und ein Schild um den Hals trägt: "Ich bin Jungfrau. Bitte ändere das!" Einen Ex-Dealer und Ingenieur, der eine Pistole im Hosenbund trägt.
Wer das "Gathering" besucht, erlebt ein Amerika, das wenig gemein hat mit Hollywood, der Wall Street und dem Silicon Valley. Die Juggalos kommen größtenteils nicht aus den Großstädten an der Ost- und Westküste, sondern aus Kleinstädten in Michigan, Louisiana und Ohio, in denen die Infrastruktur und die Industrie den Bach runtergehen und die Menschen weniger Lebenschancen haben. Fast fünfzig Millionen arme Menschen leben zurzeit in den USA, und Präsident Obama sagte in seiner Rede zur Lage der Nation am Anfang des Jahres, dass es die größte Herausforderung im 21. Jahrhundert sei, die Schere zwischen Arm und Reich nicht größer werden zu lassen. Gleichzeitig aber kündigen konservative Republikaner im beginnenden Kongresswahlkampf an, die Sozialhilfe zu kürzen. Der konservative TV-Sender Fox News wettert 24 Stunden am Tag gegen die angeblichen Schmarotzer aus der Unterschicht, bezeichnet sie als "Ratten" und "Parasiten«.
Die amerikanische Mittelschicht will die Juggalos nicht haben. Deshalb bilden sie während des "Gathering" eine eigene Gesellschaft. Sie unterhalten zum Beispiel eine Art funktionierende Tauschwirtschaft: Wer kein Geld hat, tauscht ein altes Band-Shirt gegen ein Sixpack Bier oder bietet für ein paar Dollar an, das Auto zu putzen. Vor ihren Zelten verkaufen einige für einen Dollar Hotdogs, selbst gebackene Kekse, Freundschaftsarmbändchen oder selbst gemalte Bilder und natürlich Acid. MDMA. Kokain. Pilze. Marihuana. Es gibt sogar eine eigene Justiz den "Juggalo Night Court«. Im vergangenen Jahr wurde ein Teilnehmer dabei erwischt, wie er Geld aus Zelten klaute. Statt das der Polizei zu melden, verprügelte eine Gruppe den Dieb und zerlegte sein Auto in Einzelteile.
Die Juggalos werden von den Behörden und dem Establishment kritisch betrachtet. Das FBI veröffentlichte vor einiger Zeit ein 94 Seiten langes Dokument mit dem Titel "Nationale Bedrohungsanalyse durch Gangs«. In der Gruppe "Nicht traditionelle Gangs" werden auch die Juggalos aufgelistet. Damit stehen sie im selben Bericht wie schwer kriminelle Gangs wie die Crips oder die lateinamerikanische Mara Salvatrucha. Straßengangs also, die kartellähnliche Strukturen haben, morden und schwere Verbrechen verüben. Es gibt sicherlich Kriminelle unter den Fans von ICP, aber die meisten der rund eine Million Juggalos wie das FBI schätzt mögen vor allem die Musik, die Partys, das Gefühl des Zusammenhalts.
Seit dem FBI-Bericht ist es riskant geworden, in der Öffentlichkeit die ICP-Symbole zu zeigen. Überall auf dem "Gathering" hört man Geschichten wie die von Amanda, die als Landvermesserin in Las Vegas arbeitet und bereits zum fünften Mal beim "Gathering" dabei ist. Die Polizei hielt sie aufgrund eines ICP-Stickers auf dem Wagen auf, verhörte sie mehrere Stunden und setzte sie auf eine Liste von potenziellen Gewalttätern. Ihre Zuneigung zu ICP hat das nicht vermindert, sondern eher noch gestärkt: "ICP haben mich erzogen, nicht meine Eltern oder meine Großeltern.«
In der Nähe des Wrestling-Rings, der zu jedem "Gathering" dazugehört, trifft man den 31-jährigen Anwalt Farris Haddad, den Anwalt von Violent J und Shaggy 2 Dope, der gegen den FBI-Bericht klagt. Warum das FBI die Juggalos auf die Liste setzte, ist bis heute nicht eindeutig nachvollziehbar. "Wir bekamen vom FBI eine lose Sammlung von Zeitungsartikeln, in denen darüber berichtet wurde, dass Juggalos kleinere Straftaten begangen hätten«, sagt Farris, der in Detroit mit der Musik von ICP aufgewachsen ist. Auch wenn er nur noch selten zu Konzerten geht, möchte er den Namen der Juggalos verteidigen. Im April erklärte sich das Amtsgericht für nicht zuständig und wies die Klage ab. In ein paar Monaten will Farris in einer höheren Instanz in Berufung gehen. In den vergangenen zwei Jahren hat er Tausende Juggalos interviewt und Geschichten von Menschen gehört, die ihren Job verloren haben, weil sie ein ICP-T-Shirt am Arbeitsplatz getragen haben, oder denen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen wurde, weil sie Juggalos sind.
Verlässt man das Festivalgelände, ist man in wenigen Minuten in Thornville. Knapp tausend Menschen leben in der Stadt. An der Main Street befinden sich neben der Polizeistation das Büro des Bürgermeisters, eine Apotheke und ein kleines Restaurant, das an diesem sonnigen Nachmittag fast leer ist. In den Seitenstraßen folgt Reihenhaus auf Reihenhaus. Auf einer Veranda stehen blau lackierte Stühle. Blumen rahmen den Weg. Thornville ist eine Bilderbuchstadt, hier gibt es viel Spießigkeit und drei Kirchen. Die Bewohner haben sich eigentlich an Musikfans gewöhnt. Seit über dreißig Jahren treten hier Rockgrößen wie Bon Jovi oder Bryan Adams auf. Einen Monat nach dem "Gathering" wird Tim McGraw, ein Country-Star, für seine Fans Songs wie "Just to See You Smile" singen. Musik, die in Radios läuft, die jeder kennt. Gegen die niemand etwas hat.
Vor einer Kirche versammeln sich die Jugendlichen zur Bibelstunde. Melissa King, eine Frau mit blonden, lockigen Haaren, winkt sie in den Unterrichtsraum. Fragt man Melissa nach den Juggalos, verschwindet ihr Lächeln. Viele Einwohner von Thornville waren gegen das "Gathering" und wollten das Festival verhindern. Doch der Besitzer des "Legend Valley«-Geländes, Steve Trickle, ging von Haus zu Haus und beruhigte die Anwohner. Schließlich gab der Bürgermeister sein Einverständnis. Man könnte Melissa erklären, dass sie und die Juggalos viel gemeinsam haben, dass sie beide an die Familie, an Himmel und Hölle glauben und nur bei Splattervideos und Gangbangs unterschiedlicher Meinung seien. Aber Melissa ist kaum zu beruhigen. "Ich sage meinen Kindern, dass sie sich in der Schule anstrengen müssen, damit sie nicht so enden«, sagt Melissa. Und natürlich dürfen ihre Kinder auf keinen Fall ICP hören. Melissa hat Angst, dass ihr Vorgarten zertrampelt wird und Graffitis an den Wänden auftauchen. Die Bewohner von Thornville zeigen, wie viele Amerikaner aus der Mittelschicht auf die Juggalos blicken. "Ich bete jeden Tag, dass an diesem Wochenende niemand stirbt«, sagt Melissa.
Noch heute trägt er eine Pistole unter dem T-Shirt.
Wahrscheinlich hätte Melissa auch vor Marcus große Angst. Der 29-Jährige hat muskulöse Arme und er hat sich ein Bandana der Band Twisted um den Kopf geschlungen. Sein Zelt findet man am Rande des Festivalgeländes. Er braucht ein bisschen Abstand von den anderen Juggalos der Besuch des "Gathering" ist für ihn eine Zeitreise, zurück in ein vergangenes Leben.
Marcus ist ICP-Fan, seit er zwölf Jahre alt war. "Ich war damals gewalttätig«, sagt er. Marcus erzählt von illegalen Kämpfen in Hinterhöfen und Bar-Schlägereien. ICP hätten ihm geholfen, niemandem wirklich zu schaden, "gerade weil sie in ihren Songs darüber rappen, dass man in manchen Momenten einfach jemanden umlegen will«. Dieses dunkle Gefühl kenne er sehr gut, sagt Marcus, und er ist sich nicht sicher, ob er ohne ICP und die Juggalos nicht doch irgendwann die Beherrschung verloren hätte. Marcus hat 26 ICP-Konzerte und dreimal das "Gathering" besucht, war auf Hunderten Psychocore-Konzerten. Zehn Jahre lang reiste er zusammen mit seiner Exfrau Sara durch die USA und verkaufte Drogen auf den Konzerten. "Das war unser Zuhause«, erzählt er und zeigt auf ein grünes Zelt. "Wir haben vom Dealen gelebt. Sara hat selbst viel konsumiert." Es fällt ihm schwer, über diese Zeit zu reden.
Vor drei Jahren war er an einem Punkt, an dem er sich entscheiden musste: Will ich eine Frau, Kinder und ein normales Leben? Oder will ich weiter Drogen verkaufen und auf der Flucht sein? Sara entschied sich für die Drogen, Marcus meldete sich auf einem College an und studierte Ingenieurwissenschaften. Sobald er seinen Abschluss hatte, bekam er einen Arbeitsvertrag bei einem großen Konzern, der Roboter für die Autoproduktion entwickelt. Noch heute trägt er eine Pistole unter dem T-Shirt. Er habe sich eben viele Feinde gemacht, sagt Marcus und fügt hinzu, dass er einen Waffenschein besitze. Er hofft, dass er die Waffe nie benutzen muss.
Der Besuch des "Gathering" ist für ihn eine Art Abschied von den Juggalos und ICP. Die Band habe ihm sehr geholfen, sagt er, mit der Stimmes eines Mannes, der weiß, dass ein Happy End keine Selbstverständlichkeit ist. Er werde tief drinnen immer ein Juggalo bleiben. "Wir Juggalos müssen immer ein bisschen mehr tun, damit wir eine Perspektive haben«, sagt er.
Am vierten Tag um 22 Uhr ist der Campingplatz verlassen. Die Juggalos haben sich vor der großen Bühne versammelt wie zu einem Gottesdienst. Viele haben sich schwarz-weiße Clownsgesichter gemalt. Es ist warm und leichter Regen kühlt die schwitzenden Körper. Auf dieses Konzert haben alle gewartet, Brandon, Amanda, Marcus, Farris. Das Finale des "Gathering«. "Up in the air I hear they don't care / Get your mutha fucken melon busted for a stare«, rappen ICP und alle gehen mit. Auf der Bühne stehen zehn Leute, die Faygo in die Massen sprühen. Der leicht süßliche Geruch der Billiglimonade verbreitet sich in der Sommernacht. Es ist, als würden alle zu einem klebrigen Klumpen verschmelzen. Sie tanzen. Sie schreien. Sie rufen immer wieder "Wir sind eine Familie" und "Whoop whoop!«. Für den letzten Song öffnen ICP die Bühne. Mehr Faygo. Mehr Dezibel. Mehr Menschen. Brandon steht neben dem Moshpit, hat ein breites Grinsen im Gesicht und sagt: "Ich will nie wieder ein 'Gathering' verpassen." Amanda tanzt auf der Bühne. Marcus steht vorm Riesenrad und beobachtet das Konzert aus der Ferne. Er packt, bevor die Sonne aufgeht. Als er das Gelände verlässt, hat er sein grünes Zelt zurückgelassen.
Erschienen im Magazin NEON